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Bastelprogramm The Toy Shop

Bastelstunde

von Tim Schürmann (mit Dank an Georg Fuchs und Arndt Dettke)
Der ziemlich kuriose Toy Shop druckt vorgefertigte Bastelbögen, aus denen sich mit Schere, Klebstoff, ein paar Zahnstochern und wenigen Handgriffen funktionstüchtige Papierspielzeuge zaubern lassen.

Fast jeder, der vor dem Mauerfall aufgewachsen ist, kennt die guten alten Bastelbögen. Meist über Zeitschriften wie Yps oder Micky Maus strömten sie beständig in die Kinderzimmer der Nation. Zunächst schnitt man entlang der vorgezeichneten Linien die einzelnen Bauteile möglichst vorsichtig und akkurat aus, verschnitt sich dabei jedoch schon aus Prinzip mehr als ein Mal. Hatte der Verlag mit etwas Glück an eine Perforation gedacht, riss beim Heraustrennen natürlich mindestens eine wichtige Lasche ab, die es dann mit Tesafilm irgendwie wieder zu restaurieren galt. Anschließend wurde die flinke Flasche gezückt und die einzelnen Teile an ihren meist viel zu kleinen Laschen zusammengeschweißt. Das Ergebnis war dann etwa eine klebrige Spardose, die schon beim Anschauen wieder in ihre Einzelteile zu zerfallen drohte. Aber sie schluckte brav kleine Geldstücke, die über einen ausgeklügelten Mechanismus beim Herunterfallen noch einen Papierarm winken ließen. War das gebastelte Etwas schließlich nach einem Tag komplett in seine Zellulosebestandteile zerfallen, musste man geduldig auf das nächste Heft warten.

Nachschub

In diesen boomenden Markt des Kartonmodellbaus (englisch Paper Models, auch Card Models oder Papercraft genannt) sprang 1986 die amerikanische Firma Broderbund mit einem extrem kuriosen Anwendungsprogramm. „The Toy Shop“ bestand aus einer Sammlung von 20 Bastelbögen, die ein angeschlossener Nadeldrucker kreischend auf das eingelegte Endlospapier bannte.

Die ausgespuckten Modelle waren mal mehr, mal weniger knifflig nachzubauen: Während Kinderhände mit einem kuriosen Oldtimer mehrere Stunden beschäftigt waren, trieb die zahnradbetriebene Spardose selbst alte Hasen in den Klebstoffwahnsinn. Bastelfehler waren hier jedoch weniger tragisch. Ging einmal etwas schief, ließ man das Modell kurzerhand erneut aus dem Drucker rattern.

Den letzten Pfiff erhielten die Kartonmodelle durch ihre ausgeklügelte Mechanik: So spielten Gummibänder hier und da Motor, kleine Holzstäbchen bildeten Achsen und ein aufgeblasener Luftballon verwandelte sich wahlweise in eine Düse oder eine Dampfmaschine.

Springende Antworten und rotierende Bilder

Neben Standardmodellen wie einem alten Lieferwagen, dem erwähnten Oldtimer oder einer funktionstüchtigen Dampfmaschine, bereicherten auch kuriose Gegenstände das Sortiment. Allen voran das Orakel, das auf jede Frage eine Antwort weiß. Sein Arbeitsprinzip entspricht dem eines herkömmlichen Würfels: Zunächst drückt man das Orakel mit der flachen Hand auf den Tisch, wodurch sich im Innern des Quadridekagons ein Gummiband spannt. Jetzt stellt man seine Frage und zieht die Hand zurück. Das Orakel springt in die Luft und präsentiert nach der Landung auf der nach oben zeigenden Seite die Antwort.

Nicht minder kurios sind auch die Sonnenuhr, das mittelalterliche und bis zu 10 Meter weit schießende Katapult oder die Zoetrope, die ähnlich wie ein Daumenkino funktioniert [2]: Ein Betrachter schaut durch schmale Schlitze in einen sich drehenden Zylinder. An dessen Innenwand liegt ein austauschbarer Papierstreifen, auf dem kleine Bilder eine Bewegungsfolge darstellen. Durch die Rotation flitzen die Bilder am Auge vorbei und es entsteht der Eindruck eines flüssig ablaufenden Films. Für Kinder ist dieses Modell besonders interessant, da sich die mitgelieferten Filmstreifen rasch um selbst gemalte Kreationen ergänzen lassen.

Von einigen Bausätzen kannte das Broderbund-Programm zudem noch verschiedene Varianten. So durfte man beispielsweise den Lieferwagen als geschlossenes Modell oder mit einer offenen Ladefläche drucken lassen.

Warten auf Godot

Die Bedienung des Toy Shops ist simpel: Nach dem Laden wählt man im „Setup“ zunächst den angeschlossen Drucker und dann über „Browse Toys“ das gewünschte Modell. Die dabei präsentierten Vorschaubilder sind allerdings mehr als Illustration gedacht und geben nur einen vagen Eindruck vom fertigen Endprodukt. Hat man seine Wahl getroffen, darf man das Spielzeug noch per „Customize Toy“ in einigen Bereichen verändern. Beispielsweise lassen sich die Antworten des Orakels durch eigene Texte ersetzen oder der Außenhaut des Lieferwagens andere Schraffuren verpassen. Farben kennt The Toy Shop übrigens nicht – hier muss man nach dem Ausdruck mit Buntstiften nachhelfen. „Print Toy“ schickt den Bastelbogen schließlich Richtung Drucker. Ab jetzt heißt es Geduld bewahren: Bis ein komplettes Modell auf dem Papier steht, können durchaus einige Minuten bis Stunden vergehen.

Bei der Papierwahl sollte man daran denken, dass die meisten Modelle nach etwas dickerem Karton verlangen. Das insbesondere früher gerne verwendete Endlospapier ist nicht nur fummeliger zu verkleben, es hält den eingesetzten Mechaniken und Gummibändern auch nur kurz stand. Sofern der Drucker nur dünnes (Endlos-) Papier schluckt, empfiehlt es sich, das Endergebnis vor dem Ausschneiden noch auf etwas dickeren Fotokarton zu kleben.

Unerschwingliches Füllhorn

The Toy Shop erschien außer für den Commodore 64 auch für den Apple II, den PC und Apples Macinthosh. Wer die für damalige Verhältnisse horrenden 75 Dollar auf den Ladentisch legte, bekam ein recht üppig ausgestattetes Paket. Neben sechs prall gefüllten Diskettenseiten und einem 214-seitigen Handbuch, mit dem man leicht jemanden hätte erschlagen können, enthielt es auch sämtliche Materialien, die nötig waren, um jedes Modell einmal zu bauen. Darunter Luftballons, verschiedene Holzstäbe und mehrere Blätter Fotokarton. Im Handbuch fand man nicht nur eine Beschreibung des Programms, sondern auch ausführliche Bauanleitungen, Tipps zum Aufbau, Abbildungen der fertigen Modelle und noch einmal die Bastelbögen in verkleinerter Form.

Nicht tot zu kriegen

Vermutlich aufgrund seines recht hohen Preises und der doch etwas zu kleinen Zielgruppe der erwachsenen Papierbastler, floppte The Toy Shop in den Regalen. Die meisten Käufer dürften zudem die mitgelieferten Materialien verbraucht haben, so dass ein komplett erhaltenes Paket heute eine kleine Rarität darstellen dürfte.

Nichtsdestotrotz gibt es nach wie vor zahlreiche Fans des Kartonmodellbaus, von denen einige immer mal wieder den Toy Shop für sich entdecken. Dies führt dann wiederum zu lesenswerten Internetseiten, wie etwa der von Michael Bean [1]. Die laufende Spardose findet man mittlerweile sogar als Video unter [3], während einige Bastelfreunde an anderer Stelle eifrig über Verbesserungsmöglichkeiten der Modelle diskutieren [4].

Die Macher
Erdacht wurde The Toy Shop von Jim Calhoun, der zusammen mit Kyle Wickware und Michelle McBride auch die Modelle entwarf. Insbesondere Kyle Wickware ist im Kartonmodellbau kein Unbekannter: Neben den Toy-Shop-Modellen veröffentlichte er verschiedene Vorlagenhefte, wie beispielsweise das 40 Seiten starke „Make your Own Working Paper Steam Engine“ aus dem Jahr 1986 (erschienen bei Harpercollins).

Die Programmierung von The Toy Shop übernahmen Glenn Axworthy, Lauren Elliot und Alick Dziabczenko. Letzterer sorgte dabei für die Commodore-64-Umsetzung. Sein Kollege Lauren Elliot hatte ein Jahr zuvor schon die bekannte „Where in ... is Carmen Sandiego?“-Reihe aus der Taufe gehoben, bei der später auch Glenn Axworthy mitmischte. Lauren Elliot war schließlich noch an der Myst-Reihe beteiligt, brachte es sogar zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag [7] und trat zuletzt 2007 als Mitbegründer des Social Networks „Personal News Network“ (kurz PNN) in Erscheinung.

Die Modelle
Mit The Toy Shop ließen sich folgende Dinge basteln:
  • Antiker Lieferwagen (mit beweglichen Rädern)
  • Flugzeug (balanciert kunstvoll auf einem Ständer)
  • Antikes Karussell mit vier Pferden (die sich beim Drehen auf und ab bewegen)
  • Sonnenuhr
  • Gleiter (ähnlich dem Flugzeug der Gebrüder Wright)
  • Fliegender Propeller (Stab mit vier Rotorblättern)
  • Helicraft (durch Gummibänder angetriebene Propeller)
  • Dragster (durch einen Ballon angetriebenes Rennauto)
  • Spardose (mit aufwendigem Zahnradantrieb)
  • Mittelalterliches Katapult
  • Mercer Raceabout (Oldtimer mit lenkbaren Vorderrädern)
  • Orakel
  • Briefwaage
  • Spirit of St. Louis (Modell des Flugzeugs von Charles Lindbergh mit rotierendem Propeller)
  • Raumschiff (Gleitet durch seinen Aufbau wie ein Papierflugzeug)
  • Dampfmaschine (angetrieben von Luftballons)
  • Ölpumpe (im texanischen Stil, macht Förderbewegungen)
  • Kreissäge (Zubehör für die Dampfmaschine)
  • Bagger (der wie sein Vorbild funktioniert)
  • Zoetrope

Raus damit!
Wer jetzt Blut geleckt hat und eines der Modelle nachbauen möchte, steht schnell vor dem Problem, die Bastelbögen aus dem Programm herauszubekommen. Besitzer eines realen C64 nebst Nadeldrucker sind hier fein raus. Farbbänder und (Endlos-) Papier bieten noch viele Internetversender an. Hier reicht es in der Regel aus, den Namen des Druckers zu googlen und die unterbreiteten Angebote zu prüfen.

In allen anderen Fällen wird es etwas kniffliger. Die naheliegendste Lösung wäre, die Modelle aus dem Handbuch zu kopieren. Allerdings lassen sich die Baupläne dann nicht mehr individualisieren.

Bleibt noch der Weg über einen Emulator wie zum Beispiel VICE. In ihm aktiviert man den emulierten Drucker und leitet die Ausgaben von The Toy Shop in eine Datei um. Um diese wiederum in eine Bilddatei zu konvertieren, hat der erklärte Toy Shop Fan Michael Bean ein kleines, kostenloses Programm gestrickt [5]. Um es zu starten, benötigt man das ebenfalls kostenlose Chipmunk-Basic [6]. Eine Beschreibung des kompletten und ziemlich aufwendigen Verfahrens würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Eine gute, wenn auch englische Anleitung, hat Michael Bean seinem Programm beigelegt. Das Ergebnis ist dann ein Bild, das man mit einem beliebigen Grafikprogramm wie beispielsweise Photoshop nachbearbeiten, kolorieren und ausdrucken kann.

Michael Bean schlägt auf seiner Homepage noch eine weitere Möglichkeit vor, für die man jedoch einen weiteren Commodore Computer benötigt [1]. Diesen Helfershelfer programmiert man so um, dass er wie ein Drucker reagiert und alle eingehenden Daten einfach nur abspeichert. Jetzt verbindet man beide Rechner und startet unter Toy Shop den Ausdruck. Die so erhaltene Datei muss man anschließend noch auf den PC transferieren und in ein Bitmap-Bild umwandeln. Dieses Verfahren dauert jedoch wesentlich Länger und ist zudem komplizierter als der Weg über einen Emulator.

Infos 
[1] Informationsseite zu „The Toy Shop“ von Michael Bean: http://mikeandlace.wordpress.com/2007/12/30/the-toy-shop/
[2] Funktionsprinzip der Zoetrope: http://de.wikipedia.org/wiki/Zoetrop
[3] Video der laufenden Spardose: http://video.google.com/videoplay?docid=-6507014360844289205&hl=en
[4] Diskussion zum Toy Shop: http://www.papermodelers.com/forum/found-internet/889-toy-shop-20-mechanical-models.html
[5] Konvertierungsprogramm, das Toy-Shop-Ausdrucke in Bitmap-Bilder verwandelt: http://www.mediafire.com/?ezjgmgsmexs
[6] Chipmunk Basic: http://www.nicholson.com/rhn/basic/
[7] Lauren Elliot bei Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Lauren_Elliott

Version 1, veröffentlicht am 28.12.2008

Copyright (C) 2008 Tim Schürmann
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