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Hobbytronic 2005

Vom langsamen Sterben einer alten Dame

von Tim Schürmann

Während ich genussvoll in meine labberige und lauwarme Knackwurst beiße, blicke ich nach unten auf die letzten Lebenszüge einer alten Dame. Weder das Motiv für den langsamen Tod noch der Täter sind bekannt. Vermutlich ist es eine Verkettung unglücklicher Umstände.
Bereits am Eingang machte sich Konfusion breit. Ein Student versuchte, mir verzweifelt das neue Kartenverkaufskonzept zu erläutern. Dies dürfte vermutlich auch zu den langen Schlangen vor den Kassenhäuschen geführt haben. In diesem Jahr gab es sowohl Kombi- als auch Einzeltickets. Mit den Scheinen der ersten Kategorie gehörte man zu den privilegierten Besuchern. Diese erhielten Zutritt zu allen Messehallen. Wer an Modellbau oder im Gegenzug an Computern kein Interesse fand, fuhr zwei Euro billiger, durfte sich aber nur in seinem Territorium bewegen. Als sparsamer Mensch orderte ich eine Hobbytronic-Karte. Der Student hinter der kugelsicheren Glasscheibe gab mir nun zu verstehen, dass er mir zwar alles verkaufen könne, eben jene Karten gäbe es aber nur vor Halle 3b. Ich selbst beging den Fehler und akzeptierte die zwei Euro Aufschlag für die Freunde des Modellbaus. Hinter mir wurden bereits zwei Holländer unruhig. Ich schob einen Zehn-Euroschein auf die Gummimatte und wartete auf mein Wechselgeld. Süffisant grinste mich der Student an. Ein "Stimmt so!" und ein Blick auf die Preistabelle gaben mir die Sicherheit, viel Geld für wenig Spaß investiert zu haben. Ich wartete auf das Ertönen des Jingles, der beim Erreichen neuer Rekorde erklingt. Im Falle von Eintrittspreisen verzichtet man wohl auf diesen schönen Brauch.
Mit dem bedruckten Papierstreifen in der Hand wanderte ich in Richtung Eingang Messezentrum. Der ausdünnende Besucherstrom kündigte an, dass die Kassenhäuschen in den hier angesiedelten Bereichen nichts zu tun hatten. Die Hobbytronic residierte, wie eben gehört, in Halle 3b. Da letztere erst vor kurzem fertig gestellt wurde, mussten die als Kartenverkäufer angeheuerten Studenten in kleinen, Dixi-Klo-ähnlichen Kästen ausharren. Ich widerstand der Versuchung, dort Eintrittskarten exklusiv für die Intermodellbau zu ordern.
Um den Mehrpreis zu rechtfertigen, führte mich mein Weg zunächst in die von Holländern, Belgiern und Franzosen übernommenen Intermodellbauhallen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich auf einem Video- oder Diaabend als Hintergrunddarsteller auftauche, ist extrem hoch: Eine derartige Ansammlung von Kameras habe ich bislang noch auf keiner Messe erlebt. Ich hätte meinen Eintrittspreis nachträglich als Gage zurückfordern sollen. Langsam ließ ich mich von der Menge in Richtung Halle 3b schieben. Die Reise ging vorbei am Stand von Conrad Electronics. Womit ich mir bereits sehr sicher war, dass ich diesen Händler von elektronischem Kleinkram später nicht mehr auf der Hobbytronic antreffen würde. Die Verkaufsoase von Conrad blieb jedoch auch nach wie vor die lustigste: Bei deren Stand (ein Käfig, der selbstverständlich einbruchsicher und ohne Fenster ist) muss man sich bereits am frühen Morgen anstellen, um ihn abends endlich betreten zu dürfen.
Am Eingang der Halle 3b überwachten militärisch bekleidete Hostessen mit Argusaugen die Zugangsberechtigungen. Mit meinem teuer erstanden VIP-Ausweis schob ich mich lässig an meckernden Hobbytronic-Besuchern vorbei.
Eine gegenüber der Modellbau recht leere Halle, gähnte mir entgegen. Zu meiner rechten Seite hatte die Messeleitung geschickt versucht, mit einem langen, schwarzen Vorhang die Größe der Lokalität zu kaschieren. Der Stoff teilte den genutzten vom ungenutzen Bereich. Zu ihren Glanzzeiten belegte die Hobbytronic satte drei Hallen, von denen nunmehr eine halbe geblieben ist. Was vor ein paar Jahren als Börse für Elektrotechniker und Elektroniker begann, entwickelte sich zu einer fast reinen Ich-verkauf-noch-ältere-Sachen-noch-billiger-Verkaufsshow. Dabei blieb die Auswahl der dort vertretenen Händler in den letzten Jahren recht konstant. Damit dies jedoch nicht auffiel, hatte sich der Veranstalter einen tollen Trick einfallen lassen: Er verlegte die Stände jedes Jahr an einen anderen Standort innerhalb der Hallen. In diesem Jahr kam ihm so der Neubau gerade recht.
Schon nach wenigen Schritten ins Halleninnere brüllte mir der deutsche Bundeskanzler aus einer Vierhundert-Watt-Anlage in mein rechtes Ohr: "So ein Papier gibt's nur bei mir!" Der zurückbleibende Tinnitus wich erst am Stand des Lakritzverkäufers.
Ein paar Elektronikschrottvertriebe weiter verteilten leicht bekleidete Mädchen in Röcken unmotiviert Handzettel. Erst als sich die Frau zu mir umdrehte, erkannte ich einen wilden Bartwuchs, dessen Besitzer in einem Kilt für Schottenpreise warb. Nur wenige Schritte geradeaus wummerte erneut eine Anlage. Diesmal neben einem großen, schwarzen Truck. Auf der Rückseite stand ein Mann im schwarzen Anzug auf einer Bühne. Laut brüllend warf er Softwaretitel in die Menge, die einsame Informatikstudenten nachts in zwei Stunden auf einer Galeere programmieren mussten und die so nützlich waren wie die Inhalte der AOL-CDs. Unwillkürlich dachte ich an die frühen 90er Jahre zurück. Dort war man nicht so geizig wie heute, sondern schleuderte gleich ganze Leerdiskettenpakete oder zumindest einigermaßen brauchbare Sharewaretitel mutig in riesige Menschenmassen.
Ein paar Meter weiter versuchte ein Angestellter eines der wenigen noch verbliebenen Softwareverkaufsstände ebenfalls die Nummer mit der aufgedrehten Lautstärke. Er packte munter zehn Jahre alte Software, im Funktionsumfang radikal beschnittene OEM-Versionen und andere Kleinigkeiten, die keiner braucht, in eine Tüte und verhökerte sie für viel Geld an ahnungslose Kunden. Ebendieser Stand würde mir bei meinem Rundgang noch mehrfach begegnen: Ich habe mindestens drei von der Sorte gezählt. Dies scheint für den Inhaber gleich mehrere Vorteile zu haben. Zunächst verdrängt er geschickt sämtliche anderen Softwareläden. Gleichzeitig haben die Besucher das Gefühl, einen immer anderen Stand vor sich zu haben, wobei das Geld aber dennoch in die Taschen desselben Besitzers fließt. Interessante Taktik.
Ein großer Teil der Halle wurde dieses Mal für Sonderveranstaltungen genutzt. Die deutsche Casemod-Meisterschaft würde zwar erst am Samstag stattfinden und es sogar bis zu einem mehrseitigen Bericht in das Fachmagazin c't schaffen, dennoch ließ es sich die Messeleitung nicht nehmen, die zu diesem Zeitpunkt leeren Tische für die Ausstellungsstücke weiträumig abzusperren.
Um die Ecke versuchte ein Mitarbeiter des PING e.V. auf einer kleinen Vortragsbühne, verzweifelt mehreren mit sich selbst beschäftigten Jugendlichen nahezubringen, wie wichtig der richtige Schutz sei. Gerade auch im Internet. Die meisten der potentiellen Zuhörer genossen jedoch einfach nur die kostenlosen Sitzgelegenheiten. Letztere bestanden aus schnell zusammengetackerten rot-samtig bespannten Holzkisten, die den Schülern aber offenbar genügten. Der Stand des vortragenden Vereinsmitglieds befand sich in diesem Jahr recht gut versteckt in einer Ecke der Halle. Dort traf man auch auf die einzigen tätigen C64-Modelle. Einsam vor sich hin rechnend hielten sie die alten Werte der Hobbytronic hoch. Unterstützt wurden sie lediglich von einer kleinen Firma, die PCs in Nachbildungen von Automatengehäuse schraubte. In Zusammenarbeit mit dem Emulator MAME wurde auf diese Weise die Atmosphäre der alten Spielhallenklötze wiederbelebt. Zwar keine echte Neuheit, aber wenigstens ein paar aufkeimende Nostalgiegefühle. Dennoch bleibt abzuwarten, wie schnell es den Hersteller finanziell dahinrafft.
Überraschend stand ich plötzlich vor einem Stand des Computerhändlers Atelco. Mit etwas Wehmut dachte ich an die Zeiten zurück, in denen Vobis gegen Escom antrat. Beide Firmen lieferten sich damals im Laufe der Messewoche derartige Preiskämpfe, dass man am Sonntagabend durchaus schon Ware zum Einkaufspreis bekommen haben soll. Das war zu besagter Zeit, als die Hobbytronic noch satte drei Hallen füllte. Die Computerschau war zunächst nur eine eigene, angegliederte Messe. Im Laufe der Jahre wurden jedoch die Elektroniker immer weiter zurückgedrängt. Unzählige Käufer strömten in die Hallen, um ihre Schnäppchen zu machen. Beflügelt vom Erfolg wurden munter die Preise erhöht, was jedoch wiederum die großen Unternehmen abschreckte, die in der Regel die Hobbytronic nutzten, um ihre Lager zu räumen. So konnte man als C64-Besitzer noch in den letzten Jahren der Heimcomputer-Ära an den Ständen von Horten oder Karstadt so manch eine Softwarerarität ausgraben. Ersetzt wurden die großen Einzelhändler durch eine Kompanie der Druckerpatronenhersteller, angeführt vom allmächtigen Compedo. In den folgenden Jahren wurde gepumpt und gefüllt, was die Spritzen hergaben. Das Nachlassen der Elektronikbastler gab der eigentlichen Hobbytronic den Todesstoß, so dass die Computerschau mit der Hobbytronic nicht nur im Namen verschmolz. Immer mehr Kunden blieben aus, so dass in diesem Jahr die letzte Chance der alten Dame in einer Fusion mit der Intermodellbau bestand.
Ich bog um die nächste Ecke und traf auf einen alten Bekannten, der mir schon richtig Leid tut. Die Rede ist von diesem kleinen Stand eines einsamen Mannes, der versucht, Koffer und weitere Computerverhüllungen in Leder und anderen Kunststoffimitaten unter das Fußvolk zu bringen. An seinem Verkaufshäuschen habe ich noch nie jemanden stehen sehen. Trotzdem ist er wie magisch auf jeder Messe anzutreffen. Mittlerweile scheint er auf Scheren und neuerdings auch Super-Alles-Kleber umgeschult zu haben. Zwei Dinge, die jeder Computerbegeisterte wirklich dringend benötigt.
Ein paar Schritte weiter endete mein 10 Euro teurer Rundgang schließlich an einer kleinen, fest installierten Wurstbude, die wabbelige Phosphatstangen in Weißbrot verkaufte. Nachdem ich erneut meine Geldbörse geöffnet und ein Nahrungsmittel entgegengenommen hatte, erklomm ich den zum Wurststand gehörenden Balkon. Von hier aus hatte man einen schönen Rundumblick über das Messetreiben.

Ich reiße mich aus meinen Erinnerungen und beiße auf dem Weg zum Ausgang in das letzte vertraute Utensil einer ehemals lohnenswerten Messe.

Version 1, veröffentlicht am 20.12.2005

Copyright (C) 2005 Tim Schürmann
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